Oktopus 22

Oktopus 22


21.02.22

Ich stehe im Supermarkt, kurz vor der Kasse. Abgestützt an eine Kühltruhe. Ich weiß nicht mehr, ob Eis oder eher gefrorenes Gemüse darin war. Verträumt schaue ich in die Kühltruhe hinein, während Nicolas und Franca durch den Laden schwirren und nochmal einen Großeinkauf machen. Nicolas mag Großeinkäufe. Weil wir hungrig sind von der Wanderung und die Geburt jeden Moment losgehen könnte, ist der Einkaufswagen randvoll. Ich schiebe meine Langsamkeit auf die Wanderung und die Autofahrt, kann aber nicht logisch denken und lege immer wieder einzelne Dinge in den Einkaufswagen. Gemahlene Haselnüsse zum Beispiel, die kann man immer gebrauchen.
Nicolas findet mich an der Kühltruhe und fragt, ob alles okay sei. Selbstverständlich ist alles okay und er geht weiter. Ich bleibe stehen und spüre ein Ziehen im Unterleib. Sehr verwandt zu dem Ziehen, was ich seit zwei Wochen immer wieder empfinde. Senkwehen, denke ich. Doch diese Wehe unterscheidet sich von den Wehen zuvor. Nicht, weil sie schmerzhafter ist, sondern weil ich gezwungen bin, mich in meinen inneren Raum zu begeben. Der Supermarkt verschwimmt, während ich nur mit dem Gefühl beschäftigt bin. Das Gefühl vergeht, Franca ruft mich zu den Zeitschriften und wir entscheiden uns für eine Vogue, weil sie einen extra langen Horoskop-Teil hat. Ich hatte zuvor noch nie eine Vogue gekauft.

Zuhause angekommen lasse ich mir eine Badewanne mit Arnika-Essenz ein. Wieder, weil ich denke, müde vom Ausflug zu sein. Nicolas geht in die Küche, um Lasagne zu machen, weil wir alle hungrig sind. Franca setzt sich zu mir und liest mir mein zwei Seiten langes Horoskop vor. Immer wieder bekomme ich dieses Gefühl im Bauch und wieder versinke ich in mir selbst. Vom Horoskop habe ich nichts mitbekommen.

Ich habe das Gefühl allein sein zu wollen. Ich steige verträumt aus der Wanne und gehe schnurstracks ins Schlafzimmer. Erst jetzt wird mir bewusst, dass etwas anders ist. Verwirrt lege ich mich in Unterhose und T-Shirt auf das Bett, schließe die Augen und horche. In den letzten Wochen der Schwangerschaft kam mir immer wieder ein Refrain, den ich auf Tiktok gehört hatte, in den Sinn: „Whenever you’re ready“. Also google ich den Refrain, finde das Lied ‚Surrender‘, schalte die Noise-Cancelling-Kopfhörer ein und horche. Die Hände auf meinen Bauch gelegt, fühle ich mich dem Menschen darin so verbunden wie nie zuvor. Weinend versuche ich ihm*ihr zu sagen, dass ich bereit bin. Das war der unbeschwerteste Moment der Geburt.

Immer wieder habe ich dieses Gefühl in meinem Bauch. Nie hatte mir jemand erklärt, wie sich ein Geburtsbeginn anfühlt. Immer hieß es „Du weißt einfach, wenn es losgeht“. Es geht jetzt los, aber ich weiß es noch nicht. Ich bin also verunsichert von dem wiederkehrenden Gefühl und frage meine Schwester Lara per Telegram, wie man merkt, dass die Geburt beginnt. Dann lade ich mir eine Wehen-Zähler-App herunter, weil ich es nicht schaffe auf die Uhr zu schauen während des intensiven Gefühls. In der App muss man bloß antippen, wenn das Gefühl beginnt und wenn es endet. In der Hoffnung, anhand einer Regelmäßigkeit zu verstehen, dass das nun der Geburtsbeginn ist. Mit einer Dauer von etwa einer Minute kommt das Gefühl alle sechs bis drei Minuten wieder. Weil ich finde, dass das regelmäßig ist, rufe ich Nicolas. Er hatte längst gemerkt, dass etwas komisch war. Da ich aber zuvor gesagt hatte, dass ich während der Geburt in Ruhe gelassen werden wolle, bleibt er in der Küche und lugt immer wieder durch die Tür herein. Ich rufe ihn also und sage ihm, dass ich glaube, dass es losgeht und dass ich gerne Lena anrufen möchte. Ich erzähle Lena von dem Gefühl. Sie fragt mich, ob ich dies einfach nur mitteilen wolle, oder ob ich wolle, dass sie kommt. Ich möchte, dass sie kommt, weil ich erfahren will, was da los ist. Sie kündigt an, die Kinder noch bettfertig zu machen und dann zu kommen.

Inzwischen ist Anngret zu Besuch gekommen, ohne zu wissen, was los sein könnte. Alle wirken aufgeregt, nähern sich mir aber nicht weiter. Weil ich überzeugt davon bin, dass es nun losgeht, starte ich die Geburtsmeditation von „Die friedliche Geburt“ und versinke ein wenig in mir selbst. Nach und nach wird das Gefühl im Bauch zu einem Schmerz und mir fällt es schwer dabei bei der Meditation zu bleiben. Ich schaffe es nicht mehr bloß auf dem Rücken zu liegen und meinen Bauch zu halten, sondern gehe in die Haltung des Kindes und beginne mit der tiefen Bauchatmung. Möglichst lange und tief einatmen, dabei den Bauch rausstrecken und zügig ausatmen.

Als Lena kommt, habe ich schon den Gymnastikball zur Hilfe geholt und veratme das Gefühl über diesen gelehnt. Sie fragt mich nach meinem Wunsch und ich entscheide, untersucht werden zu wollen. Mein Muttermund ist zwei Zentimeter eröffnet und Lena bestätigt mir, dass es jetzt losgeht. Das ist das Einzige, was ich in dem Moment brauche. Lena fährt also wieder heim, um noch etwas zu schlafen. Ich kann jedoch immer anrufen, wenn ich sie brauche. Beim Herausgehen spricht sie noch mit Nicolas, aber ich bekomme nicht viel davon mit. Daraufhin bauen Nicolas und Anngret den Pool im Wohnzimmer auf und bereiten dort alles vor: Plastik unter das Laken vom Sofa, Nicolas Schreibtisch in Francas Zimmer. Wir hatten das alles gut besprochen, ich weiß, dass sie wissen, was zu tun ist. Ich bin weiter im Schlafzimmer und veratme das Ziehen und den Schmerz. Anngret kommt irgendwann an mein Bett, um sich zu verabschieden. Ich sage ihr, dass wir jetzt alle schlafengehen müssen. Ich fühle mich wie trunken und auch der Umgang der anderen mir gegenüber ist verwandt dazu. Sie lächeln innerlich und tun, wie ich es mir wünsche. Anngret ist fort und wir setzen uns zu dritt an den Küchentisch, um Lasagne zu essen, die schon lange fertig ist. Weil ich so beschäftigt war mit den Wehen, hatte ich die Antwort von Lara nicht gelesen und bat Franca, sie mir vorzulesen. Über meine Lasagne gebeugt liest Franca ein paar verwirrende Dinge vor: „Du merkst es, wenn die Wehen in der Badewanne aufhören“, „nein andersherum“, „Du merkst es auf jeden Fall, wenn Du Dich verdrogt fühlst“. Obwohl ich inzwischen weiß, in der Geburt zu sein, bestätigt mich die Nachricht. Ich fühle mich wie weggetreten. Nach dem Essen bitte ich alle ins Bett zu gehen. Ich spüre, dass es noch eine Weile dauert und ich möchte, dass wir uns noch einmal ausruhen.

Ab der Zeit im Bett habe ich kein Zeitgefühl mehr. Ich nehme die Kopfhörer wieder auf und versuche in die Hypnose zu gehen. Die Wehen werden aber immer intensiver und kommen so häufig, dass mir dies nicht wirklich gelingt. Ich halte mich an die Atmung tief in den Bauch hinein, wovon mir aber langsam schlecht wird. Ich renne aufs Klo und erbreche mich. Lege mich wieder hin, versuche zu atmen, dann kommt eine Wehe, ich erbreche mich wieder. Nicolas hat inzwischen einen Eimer ans Bett gestellt. Die ganze leckere Lasagne ist nun wieder draußen. Ich versuche zu trinken und erbreche auch das wieder. Weil mir so schlecht ist, gebe ich die Atmung auf und atme in den Wehen nur ganz flach. Der Fokus auf das tiefe Einatmen bringt immer wieder die Übelkeit her. Also leicht atmen. Dabei verkrampfe ich mich so, dass Nicolas mich bittet wieder weiter zu atmen: „Du musst atmen“. Ich werde sauer. Er weiß auch keinen besseren Tipp. Inzwischen beginne ich zu zittern und fühle mich sehr schwach. Nun bitte ich Nicolas Lena zu rufen und gehe in die Dusche, in der Hoffnung, dass das warme Wasser irgendwie diese unglaubliche Spannung etwas lösen könnte. Das warme Wasser auf meinem Rücken ist angenehm, ändert aber auch nicht viel an Atmung und Schmerz. Ich stehe, hocke, stehe, hocke. Die Augen fast immer geschlossen. Ich bin so schwach, dass ich aufhören muss zu duschen, trockne mich leicht ab und lege mich auf die vorbereitete Couch.

Lena kommt. Endlich kommt Lena. Es ist circa 2 Uhr nachts und sie betont sofort, dass sie gedacht hätte, ich rufe viel früher an. Dass sie dachte, sie könne nur zwei Stunden schlafen. „Du hast schon viel geschafft“. Ich kauere auf der Couch und wünsche mir Anweisung, irgendeine Hilfe von Lena, damit es nicht so schlimm ist. Ich zittere. Nicolas erzählt ihr, wie es bisher gelaufen ist. Lena fragt nach Salzstangen und Cola für mich. Das hatte Nicolas auf einen Tipp von Nele hin, in weiser Voraussicht gekauft, obwohl ich auf Nachfragen: „Meinst Du, Du wirst in der Geburt Cola wollen“ mit: „Ach ne quatsch“ geantwortet hatte. Lena gibt mir ein Buscopan-Zäpfchen (wahrscheinlich mein erstes Zäpfchen, seitdem ich denken kann) und leitet mich an. Sie legt sich hinter mich, drückt gegen mein Steißbein, merkt wie ich mich verkrampfe, und bietet mir ein Tönen an. Ganz anders als bei der friedlichen Geburt geht der Fokus auf die Ausatmung. Endlich finde ich etwas, um mit dem Schmerz umzugehen. Ich nehme das Tönen an, nicht besonders laut, aber kraftvoll. Meine Stimme setzt sich auf den Schmerz und gleitet ihn hinunter, bis die Wehe langsam abebbt. Welle ja, aber auch Wehe, es tut so verdammt weh. Es tut zwar weh, aber ich fühle die Kraft in meinen Körper zurückkehren. Ich bitte Lena, ab jetzt nicht mehr zu gehen. Lena antwortet wie selbstverständlich: „Ich bleibe jetzt hier, wir bekommen jetzt Dein Baby“. Und diese Sicherheit gibt mir Vertrauen. Ich merke, wie jede Geburt so unterschiedlich ist. Während meine Schwester mir immer wieder erzählte, dass sie Anweisungen von außen in der Geburt nicht brauche und immer genau wisse, was als nächstes zu tun sei, brauche ich gerade die Hebamme an meiner Seite. Ich weiß, dass sie nichts tun würde, was ich nicht möchte, und deshalb möchte ich mich in ihr Wissen, ihre Mütterlichkeit und ihre Weisheit hineinfallen lassen, um der Hilflosigkeit zu entkommen. Die Verantwortung nach außen abgeben, um diesen Job mit Babylaska zu machen, der*die noch mitten in mir lebt und nun auf dem Weg ist, geboren zu werden.

Inzwischen ist auch Franca da, ich glaube sie sitzt am Eingang des Raums, ganz still, wartet darauf gebraucht zu werden. Lena bittet Nicolas und Franca den Pool zu füllen. Ich bekomme nicht viel davon mit, eine Wehe löst die andere ab und ich bin überwältigt von der Anstrengung. Ich freue mich als ich in den Pool hineindarf. Im Nachhinein erfahre ich, dass die Wehen so häufig waren, dass Lena die Hoffnung hatte, das Wasser könne mich entspannen und die Wehenabstände etwas verkürzen. Es dauert eine Weile, bis dieser Effekt einsetzt, aber es funktioniert. Von zwei bis drei Minuten Wehenabständen zu vier bis fünf Minuten. Ich bewege mich nicht viel, nehme den Strohhalm mit Cola und die Salzstangen immer wieder in kleinen Dosen zu mir. Ich wechsle zwischen dem Yogi Squad, diesem seitlich aufgedreht und dem Sitz auf dem kleinen Luftpolster im Geburtspool. Ich denke immer wieder an die ,Friedliche Geburt‘, bin frustriert darüber nicht in die Hypnose zu kommen. Ich habe die Kopfhörer längst abgelegt, versuche mir momentweise meinen Kraftort vorzustellen. Lasse langsam los von der Vorstellung diese Geburt in Hypnose zu erleben. Ich schwanke zwischen dem Fokus auf die Wehen und dem Wunsch mich davon abzulenken. Aber ich bin da, in jedem Moment bin ich in diesem Raum, in diesem Pool, in meinem Zuhause. Ab dem Zeitpunkt im Pool verschwimmen unterschiedliche Momente in meiner Erinnerung ineinander. Lena fragt nach Apfel für mich und ich bekomme Apfel. Ellie kommt ganz leise in den Raum hinein. Es ist sowieso die ganze Zeit ganz still im Raum, weshalb sich alles, was ich tue, laut anfühlt. Später erfahre ich, dass auch dies, sich ganz leise anhörte. Ellie sagt: „Hallo Kattalin, ich bin Ellie. Ich bin ab jetzt auch da“. Ich antworte: „Hallo Ellie“ und bin froh über die Fürsorge, die sich in jedem Dunsttropfen im Raum befindet. Alle sind in diesem 14m2 Raum, der Pool, das Baby und ich, Lena, Nicolas, Franca, Ellie und auch Puka liegt auf ihrer Decke und ist einfach nur da. Die Nacht ist ruhig. Immer wieder bitte ich jemanden darum, gegen mein Steißbein zu drücken. Ich kann nicht ganz unterscheiden, wer das Drücken in welcher Wehe übernimmt, aber ich drücke jedes Mal dagegen. Ich merke, wie die Muskeln in deren Armen arbeiten müssen, um diesem Wehenschub standzuhalten. Es hilft. Ein wenig. Und trotzdem ist es nicht auszuhalten. Zwischendurch rutsche ich vom Tönen in ein weinerliches Fiepsen und Lena spricht immer wieder zu mir: „Nicht weinen, Du kannst das“, „Du hast schon so viel geschafft“, „Du machst das prima“. Lena verlässt den Raum zum telefonieren. Ich bekomme nur am Rande mit, dass es aufregend ist. Telefonate in der Nacht sind immer aufregend. Aber jetzt ganz besonders. Lena kommt zurück und erklärt mit, dass die zweite Hebamme nun auch eine Geburt hat und Ellie (die eigentlich noch in der Einarbeitung ist) die zweite Hebamme sein wird. Es beunruhigt mich in keinem Moment. Ich fühle mich sicher. Und trotzdem habe ich Angst, vor dem was ist und was noch kommt. Alle außer mir tragen Maske, aber das macht für mich keinen Unterschied. Auch, dass die Hebammen beim Untersuchen Handschuhe tragen, macht für mich keinen Unterschied. Immer wieder führt Lena oder Ellie ein Gerät an meinen Bauch, um die Herztöne des Babys zu hören. Lena versucht mich so wenig wie möglich vaginal zu untersuchen und ich freue mich jedes Mal, wenn sie mich vaginal untersucht, weil ich dann erfahre, wo wir stehen. Wie lange ein Mensch das noch aushalten kann. Lena fragt mich immer wieder, ob ich auf die Toilette gehen möchte. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen aufzustehen. Ich möchte nicht. Irgendwann sagt sie in einem erstaunlich fordernden Ton, ich solle jetzt auf die Toilette gehen und hilft mir hoch. Also folge ich ihr. Ich laufe mit breiten Beinen im Bademantel aufs Klo, ich veratme eine Wehe im Flur, eine weitere auf dem Klo, ich pinkle ein wenig. Auch hier erfahre ich erst im Nachhinein, dass das Gehen und Pinkeln manchmal den Geburtsvorgang voranbringen kann. Ich tapse zurück in den Pool. Ich will einfach nur in den Pool. Ich will mich nur zusammenkauern. So wie ich beim Atmen gelernt hatte, was die besten Geburtspositionen sind, vermeide ich alles, was der typischen Krankenhausgeburtenmäßigen Rückenlage ähnelt. Ich sage: „Ich kann nicht mehr“ und da weiß Lena, dass ich vollständig eröffnet bin. Lena bietet mir an, mich selbst zu untersuchen. Ohne wirklich ein Verlangen danach zu verspüren, tue ich es und fühle etwas, das sich wie eine Wasserbombe in meiner Vagina anfühlt. Ich bin erschrocken und Lena sagt mir, dass das die Fruchtblase sei. In einer der folgenden Wehen spüre ich ein Knacken in meinem Körper und ich bilde mir auch ein es hören zu können. Ich erschrecke mich und weil man nicht sehen kann, wie sich das Fruchtwasser in den Pool ergießt, kann man es nur riechen. Sofort zieht dieser lebendige Geruch, den ich nicht beschreiben kann, in meine Nase. Zwischendurch sammeln Nicolas und Franca mit einem Sieb Stuhlstückchen aus dem Wasser. Ich nehme das nicht wirklich wahr. Langsam spüre ich das Verlangen in der Wehe zu drücken. Es brennt, es zieht, es beißt. Ich spüre etwas aus mir herauswandern. Lena bittet mich nur so lange zu pressen, wie die Wehe da ist, nicht darüber hinaus. Ich will so sehr, dass es vorbei ist, dass ich vermutlich weiter gepresst hätte. Also höre ich auf und immer wieder fühle ich, wie der Kopf zurückrückt, sobald ich nicht mehr presse. So mühsam. Ich presse und presse und es kommt, es kommt und sobald ich aufhöre, flutscht es wieder zurück. Das ist notwendig, damit alles langsam gedehnt wird, aber an diese Abstraktion kann ich in dem Moment nicht denken. Also spüre ich die Wehe kommen, beginne zu pressen und intensiviere den Druck. Lena bietet mir eine neue Position an, gegen die ich mich so lange gesträubt hatte. Den Rücken an die Poolwand gelehnt, vor mir die Beine aufgespreizt. Aber es ist die richtige Haltung. Rechts Francas Hand, links Nicolas Hand, in die ich mich bei jeder Wehe hineinstützen kann. Ich brauche diesen Halt, um diese enorme Kraft aufzuwenden. Als würde ich das Baby von mir wegdrücken. Und dabei in das eigene Leben entlassen. Irgendwann jetzt läutet die Schulglocke und einen kurzen Moment werde ich mir gewahr darüber, dass während ich hier gebäre, draußen das normale Leben seinen Lauf nimmt und ich fühle mich wie in einer magischen Kugel eingeschlossen. Lena schaut immer wieder nach und sagt mir an einem Punkt ich solle mal selbst fühlen. Aber ich will nicht fühlen, ich will, dass es aufhört. Lena nimmt meine Hand und hält sie an den Kopf, der aus meiner Vulva herausschaut. Dieses unvergessliche Gefühl einen harten haarigen Schädel aus Dir herauskommen zu spüren. Ich bin fasziniert und erschrocken zugleich. Ich nehme wieder die Hände und presse. Und es dauert. Viele Wehen, bis der Kopf geboren ist. Und dies ist der einzige Moment in der ganzen Geburt, in dem ich das Gefühl habe zu schreien. Ich stütze mich und drücke auch mit der Stimme mit. Der Kopf ist da und ich kann einmal durchatmen. Ich habe es nun wirklich fast geschafft. Noch ein, zwei Wehen und alles flutscht in einem Rutsch aus mir heraus. Lena empfängt das Baby und legt es mir sofort auf die Brust. Ohne zu zögern, schreit Laska. Ich bin überwältigt. Ich bin so froh und überwältigt und fast ein bisschen verlegen. Ich habe unter Zeug*innenschaft einen Menschen geboren und ich habe nie gelernt, wie ich damit umgehen kann. Ellie und Lena decken das Baby mit vielen Handtüchern ab. Ich freue mich und schaue das Wesen an und bin neben aller Freude ein wenig erschrocken ob der Kopfform, der Haarfarbe, der Hautfarbe. Die Arbeit der letzten Stunden sieht man auch Dir an. Und Du schreist. Und ich frage mich, ob Du wohl einen Penis oder eine Vulva hast. Ich frage mich das, was ich nie wissen wollte und was ich bis heute am liebsten nie gewusst hätte. Doch als Eltern bleibt mir nichts anderes übrig, als es zu erfahren und damit umzugehen. Ich sage es laut: „Was ist es denn?“ Ich sage den Satz, den ich so albern finde. Es ist ein Baby und alle wissen, was ich meine. Lena lacht und fordert mich auf nachzuschauen. Ich schaue nach und sehe einen angeschwollenen Hoden und einen kleinen Penis. Nicolas Gesicht links, Francas rechts. Ich spüre Lächeln und Tränen.

Lena fragt mich, ob ich die Nachgeburt im Pool gebären möchte. Das möchte ich. Doch weil nichts passiert, bittet mich Lena aufzustehen. Ich erhebe mich aus dem blutüberströmten Pool, hebe mein Bein über die Poolwand, was so irgendwie geht, obwohl ich gerade einen Kopf aus mir herausgeboren habe. Bei den zwei Schritten zum Sofa fließt Blut aus mir heraus. Ich lege mich auf das Bett, immer noch das Baby auf meiner Brust. Ich fühle mich beflügelt von dem, was gerade passiert ist. So stolz, wie vielleicht noch nie zuvor in meinem Leben. Ich habe etwas geschafft, was ich zwischendurch nicht gedacht hätte. Rational gesehen musste dieser Mensch aus mir heraus, emotional und semiotisch aber hatte ich es momentweise aufgegeben, weil ich an dem Schmerz zu ersticken glaubte.

Lena und Ellie hantieren an meinem Unterleib herum. Ellie versucht mit mir gemeinsam das Baby an meine Brust anzulegen, damit der Milchspende-Reflex Oxytocin ausstößt, was wiederum den Uterus kontrahieren lässt und die Plazenta abstößt. Nichts passiert. Lena erklärt mir, nun eine Oxytocin-Spritze zu geben, um der Nachgeburt auf die Sprünge zu helfen. Ich habe keine Einwände. Auch hier vertraue ich darauf, dass Lena nach bestem Wissen und Gewissen interveniert. Die Spritze kommt in den Oberschenkelmuskel. Ich spüre eine Wehe kommen, ich presse, es kommt nichts. Ich presse und es schmerzt. So wie vorhin nur leichter, aber ich bin trotzdem erstaunt, ob der Intensität. Die Plazenta ist geboren. Wie eine weiche Qualle kommt sie aus mir heraus. Lena fragt, wer die Nabelschnur abschneiden möchte. Alle schauen sich an, wir hatten noch nie darüber gesprochen, wer das machen würde. Wir spüren, dass Nicolas es tun möchte. Lena hilft ihm. In seinem Gesicht kann ich sehen, wie befremdlich er das Gefühl findet mit der Schere in dieses dicke Stück Fleisch zu schneiden. Er reißt sich zusammen und schneidet und weint dabei.

Bis hierher geht die Geschichte meiner ersten Geburt, was danach passierte, will ich auch erzählen, aber es ist alles, bis heute, so spannend, dass ich kein Ende finden würde. Deshalb bleibe ich bei diesem Tag, Deinem Geburtstag. Der Rest dieses Tages, des 22.02.22 war wie in Watte gepackt. Lena, Ellie und Franca zogen sich zurück, um zu frühstücken. Nicolas, Laska und ich, wir lagen da. Einfach die weißen Decken meiner Urgroßeltern über das Blut gelegt. Du lagst auf Nicolas nackter Brust und warst jetzt einfach da. Ellie und Franca kamen zurück mit einem wunderschönen Druck der Plazenta. Dieser hängt jetzt über unserem Familienbett. Ich bekam erst Marmeladenbrot, später ein köstliches Müsli, bewegte mich bis zum Nachmittag nicht wirklich von dem Sofa weg. Lena machte noch die ersten Untersuchungen am Baby und wog es. Sie ging mit mir duschen. Die wenigen Schritte zum Bad waren schwer, ich stand in der Dusche und aus mir lief blutig getränkte Flüssigkeit heraus. Mein Beckenboden war so schwach, dass ich, ohne es zu merken pinkeln musste. Es brannte. Lena blieb beim Duschen bei mir, weil sie Angst um meinen Kreislauf hatte. Ich schlüpfte in die Glitzerunterhose, die ich mir extra für diesen Anlass gekauft hatte. Wochenbett in fein – ich freute mich über diese Vorkehrung. Langsam verließen uns die beiden Hebammen. Am Abend kam Lena nochmal vorbei. Ich zog ins Bett um und wir schliefen viel. Du lagst zwischen uns. In dieser ersten Nacht konnte ich es nicht aushalten, dass Du nicht bei mir liegen solltest, also legte ich Dich schützend direkt an meinen Bauch. Du warst da drin und für die ersten Tage würde ich mich noch von Dir lösen müssen und meinem Gefühl der alleinigen Verantwortung für Dich. Das Stillen war noch komisch, etwas tölpelig, unbequem.

Ich war froh. Dieser Weg, wie Du geboren wurdest, war so gut er nur sein konnte. Er war hart und perfekt. Und ich weiß, dass ich nicht allein dafür verantwortlich bin und bin so dankbar dafür.

 



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